BEWEISE

Houellebecq und H.P. Lovecraft

Michel Houellebecqs Essay über H.P. Lovecraft von 1991 (DuMont 2007) gelesen, wegen des Titels Gegen die Welt, gegen das Leben erst nach Beendigung des Manuskripts. Dabei stoße ich auf einige bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen meinem Roman und dem Werk Lovecrafts. In dem Kapitel, das Houellebecq mit Die Erzählung wie einen glänzenden Selbstmord angehen überschreibt, zitiert er die ersten Zeilen von Lovecrafts Kurzgeschichte Cthulhus Ruf aus dem Jahr 1926: „Die größte Gnade auf dieser Welt ist, so scheint es mir, das Nichtvermögen des menschlichen Geistes, all ihre innere Geschehnisse miteinander in Verbindung zu bringen. Wir leben auf einem friedlichen Eiland des Unwissens inmitten schwarzer Meere der Unendlichkeit, und es ist uns nicht bestimmt, diese weit zu bereisen. Die Wissenschaften – deren jede in eine eigene Richtung zielt – haben uns bis jetzt wenig gekümmert; aber eines Tages werden die einzelnen Erkenntnisse zusammengefügt so erschreckende Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, dass wir durch diese Enthüllung entweder dem Wahnsinn verfallen oder aus dem tödlichen Licht in den Frieden und in die Sicherheit eines neuen, dunklen Zeitalters fliehen werden.“ Stefan Reichert hätte sich gewiss an dieser apokalyptischen Vision erwärmt, hätte er davon erfahren, bevor die Flammen ihn verzehrten.

Außerdem erwähnt Lovecraft Houellebecq zufolge im Rahmen seines Cthulhu-Mythos ein geheimnisvolles fiktives Buch namens Necronomicon, das er selbst mit Ein Abbild des Gesetzes der Toten übersetzt. (Ich kannte es bisher nur aus dem Film Tanz der Teufel von 1981, in dem einige Jugendliche ein in menschliche Haut gebundenes Buch gleichen Titels im Keller einer Waldhütte in Tennessee finden, woraufhin sich ringsum das Böse erhebt und einen nach dem anderen ins Jenseits befördert.) Lovecraft weist es als das Werk eines wahnsinnigen jemenitischen Lyrikers Abdul Alhazred aus, von dem es heißt, er sei jahrelang durch die Wüste gelaufen und habe dabei Aufzeichnungen von Wesen entdeckt, die lange vor den Menschen die Erde beherrschten. Das Buch besteht aus etwa 1000 Seiten und enthält Andeutungen und Codes, Beschwörungs- und Zauberformeln, die, einmal ausgesprochen, Portale öffnen und Tote zum Leben erwecken. „Man glaube nur nicht, der Mensch sei der älteste oder der letzte Weltbeherrscher, oder Leben und Substanz könnten aus sich heraus bestehen. Die Alten waren, die Alten sind, und die Alten werden sein. Nicht in den Räumen, die uns bekannt sind, sondern zwischen ihnen gehen sie gelassen und unbeirrt umher, ohne Dimension und für unsere Augen unsichtbar.“ Ist auch Daniel Kuper in dieser Zwischenwelt gefangen? Und wenn ja: Wird Stefan Reichert ihn erreichen und zurückholen? Mehr dazu in: Gegen die Welt IIDie Rückkehr des Daniel Kuper, das 2022 bei DuMont erscheint.

Den Grund für diese lange Zeitspanne liefert wiederum Lovecrafts französischer Exeget. Michel Houllebecq benennt in seinem Essay Gegen die Welt, gegen das Leben nämlich eine Poetik, die im Gegensatz zu der Lovecrafts steht, aber mir nicht ganz fremd ist: „Fast jeder Romancier hält es für seine Pflicht, ein erschöpfendes Bild des Lebens zu geben. Seine Mission besteht darin, eine neue ‚Art der Beleuchtung’ zu bringen; aber was die Fakten selbst betrifft, hat er absolut keine Wahl. Sex, Geld, Religion, Technologie, Verteilung der Reichtümer … ein guter Romancier darf nichts übersehen. Und all das muss sich in eine grosso modo kohärente Sicht der Welt fügen. Diese Aufgabe ist menschlich fast immer enttäuschend. Ein unerquickliches Metier.“