Die Erwachsenen

Bernhard Kuper, Jahrgang 1945, schon sein Großvater hat in Jericho eine Drogerie betrieben, damals noch als Kolonialwarengeschäft; sein Vater, Daniel Kuper Senior, hat das Geschäft übernommen und das Sortiment um alternative Heilmittel erweitert; Bernhard, den alle, die ihn besser kennen, nur Hard nennen, gilt als Erfinder von Procapillaris, ein natürliches Haarwuchsmittel; spielt mit seinen besten Freunden Klaus Neemann und Günter Vehndel regelmäßig Skat („Die notwendigen Drei“), geht bei jeder Gelegenheit zweifelhafte Wetten ein und betreut seine besten Kundinnen auch privat. Der beste Solist im Männergesangverein.

 

Birgit Kuper, geborene Bleeker, Jahrgang 1950, ist in der Kreisstadt aufgewachsen, hat bei der weit über die Grenzen Ostfrieslands hinaus bekannten Firma Knipper – de Kluntjeknieper – gelernt und dort als Sekretärin des Chefs gearbeitet, bevor sie im Hotel Fresena auf Baltrum Hard kennenlernte, mit ihm nach Jericho zog und ihr altes Leben hinter sich ließ. Tröstet sich mit Dallas. Ihre Schwestern Gerhild und Margret leben mit ihren Familien in zwei nebeneinander gelegenen Reihenhaushälften in Bad Vilbel.

 

Klaus Neemann, Jahrgang 1944, in Lüneburg geboren, in Osterholz-Scharmbeck aufgewachsen, übernahm den Tante- Emma-Laden von Familie Hinrichs in der Bahnhofstraße, bis er, Ende der 1970er Jahre, beim Sportplatz einen Supermarkt baute, den ersten Superneemann, und im Landkreis vier weitere. Er will eine Kette gründen und den Konzernen Konkurrenz machen; er will allen zeigen, dass es jeder schaffen kann, sich ihrer Macht entgegenzustellen. Er hat den tiefsten Bass weit und breit und ist Vorsitzender des Männergesangvereins.

 

Günter Vehndel, Jahrgang 1945, Inhaber des Modegeschäftes Textil Vehndel, eins der ältesten Geschäfte im Dorf, Günters Eltern, Heinrich und Hildegard, haben den Kolonialwarenladen nach dem Krieg mehrmals umgebaut und das Sortiment mit jedem Umbau verkleinert, bis sie nur noch Damen- und Herrenmode angeboten haben. Gerd, Günters älterer Bruder, hat die Firma nicht übernehmen wollen, und seine Schwester Doreen ist zu klein, als die Alten in Rente gehen. Vehndels werden im Ort Plünnenrieter genannt. Günter ist ein Verkaufsgenie, leidet aber unter Gemütsschwankungen. Er ist Schriftführer des Männergesangvereins.

 

Johann Rosing, Jahrgang 1936, Bauunternehmer, hat das Geschäft von seinem Vater übernommen und gibt es an seinen Sohn Michael weiter. Hat nach dem Krieg das ganze Dorf neu aufgebaut, die Straßen erweitert, die Häuser renoviert, die Sportanlage errichtet, die Puddingfabrik, das Rathaus, und kämpft seit Jahren darum, in einem Naturschutzgebiet, im Hammrich, ein Betonwerk errichten zu dürfen. Seine Frau Monika starb im Frühjahr 1979 nach einem Autounfall auf der Bundesstraße. Förderer der lokalen Wirtschaft sowie des Sportvereins Germania Jericho. Kandidiert als Parteiloser für das Amt des Bürgermeisters.

 

Gerald Ahlers, Jahrgang 1935, Landarzt, Praxis in der Dorfstraße in einem umgebauten Bauernhaus; trägt oft einen Kittel, aber – im Gegensatz zu Hard – nur beruflich; leitet jede Diagnose mit den Worten „Gut, gut“ ein; verschreibt häufig Diazepam; stößt an einem unbeschrankten Bahnübergang im Hammrich mit einem Schnellzug zusammen, hat seitdem weiße Haare; Kettenraucher, riecht nach 4711. Nicht geklärt: die Geschichte mit dem Au-pair-Mädchen.

 

Eiske Ahlers, geborene Folkerts, Jahrgang 1947, Geralds Frau; Kleptomanin, hat ein Faible für Schmuck, Mode und Parfüm; zieht oft und gerne auffallend kurze und tief ausgeschnittene Kleider an; wird neidisch beäugt, seit sie bei einem Fernseh-Quiz einen Porsche gewonnen hat; Stammkundin von Hard; steht bei den anderen Frauen des Dorfes im Verdacht, sich nur für Männer zu interessieren, weil sie jede Einladung zu Kaffee und Kuchen ausschlägt und nicht dem Hausfrauenverein beigetreten ist.

 

Elvira Zuhl, Jahrgang 1921, Lehrerin, stammt aus Ostpreußen, unterrichtet Englisch und Mathe an der Orientierungsstufe am Schulzentrum, war mit dem Prokuristen Hans-Werner Hansen verheiratet; klein und dick, hat dünne, weiße Haare, fein wie Flusen; fühlt sich von Hard, der ihr das Haarwuchsmittel Procapillaris verkauft hat, um ihre Figur betrogen; liest neuere englischsprachige Literatur und geht in jeder freien Minute ins Kino, um dem Landleben zu entfliehen; will nach ihrer Pensionierung zu ihrer Schwester nach Garbsen bei Hannover ziehen. Findet Vergnügen an Daniel, obwohl er, ihrer Ansicht nach, nur ein Epsilon minus ist.

 

Dieter Kamps, Jahrgang 1953, Erdkunde- und Welt- und Umweltkundelehrer, Mitglied der Grünen, beteiligt sich an Demonstrationen und Protestaktionen gegen die Tiefflieger der Luftwaffe, versucht mit drastischen Methoden, seine Schüler vor dem Weltuntergang zu warnen, hat aber kein Verständnis für Sciencefiction. Wohnt auf der anderen Seite des Flusses. Nicht in „Gegen die Welt“: Seine Tochter Nicole stirbt Ende der Neunziger auf ungeklärte Weise im Hammrich.

 

Beate Nanninga, Jahrgang 1958, Lehrerin, unterrichtet Deutsch, Sport und Religion, macht ihr Referendariat am Albert-Einstein-Gymnasium in Hameln, hat eine Affäre mit dem stellvertretenden Schulleiter, bewirbt sich daraufhin am Schulzentrum in Jericho; wird dort Vertrauenslehrerin, Klassenlehrerin von Daniel an der Realschule, versucht ihn, auf den rechten Weg zurückzubringen.

 

Markus Schallenberg, Jahrgang 1951, Ufologe aus Hamburg, hat Ethnologie und Geschichte studiert, befasst sich mit außerirdischen Lebensformen und alternativen Selbstheilungsmethoden, Autor der Bücher Die Plutonier – das vergessene Volk, Meditative Expeditionen: Meine Reise zu mir und Sie sind in uns; nervös, menschenscheu, wird von seinen Anhängern als Prophet verehrt.

 

Walter Baalmann, Jahrgang 1950, Lokführer, vom Bahnfahren traumatisiert, leidenschaftlicher Karpfenangler, ist mit Nella Allen verheiratet und hat mit ihr einen Sohn, Tobias; lebt getrennt von seiner Familie, zeitweise in Emden, bevor er nach Jericho zurückkehrt, um sich seinen Dämonen zu stellen. Nachbar von Hans Meinders, befreundet mit Anne-Marie Kolthoff.

 

Hans Meinders, Jahrgang 1930, Pastor, stammt gebürtig aus Emden, strenger Bibelexeget, alkoholabhängig, jähzornig, wird nicht müde, junge Menschen zu gläubigen Christen zu erziehen, lässt sich dennoch vom Bösen in Versuchung führen, verflucht Daniel, wandert anschließend vierzig Tage und vierzig Nächte durch die Wüste Negev; vermietet das alte Gemeindeheim an Hard, um genug Geld für den Neubau der Leichenhalle zusammenzubekommen.

 

Marie Meinders, Jahrgang 1946, verheiratet mit Hans Meinders, hilft bei den Gottesdiensten, organisiert Kinderbibeltage, überzeugt Konfirmanden, die am Sinn der Segnung zweifeln, beim Konfitje dabei zu bleiben, unterrichtet Religion an der Grundschule, leidet unter ihrer Kinderlosigkeit, würde alles tun, um vor den Wechseljahren noch schwanger zu werden.

 

Theda Wiemers, Jahrgang 1940, hat Hard beim Maifest im Friesenhuus kennengelernt; arbeitet bei der Friesenzeitung in der Buchhaltung; ist mit dem Bürgermeisterkandidaten der FDP, Richard Wiemers, verheiratet; Mutter von zwei erwachsenen Töchtern; zeichnet sich durch überaus weiche Hände, große Lippen und eine besonders gute Erinnerung aus; holt Daniel während seines Schulpraktikums morgens von Zuhause ab und bringt ihn abends zurück.

 

Manfred Kramer, Jahrgang 1920, Tischler, Inhaber des Möbelhauses Möbelparadies Kramer, seine Frau verteilt im Dorf das Karkblattje, das Mitteilungsblatt der reformierten Kirche, sein Sohn Karsten ist vor der Bundeswehr nach Berlin-Kreuzberg geflüchtet. Manfred Kramer hat im Zweiten Weltkrieg an der Ostfront gekämpft, war mehrfach verwundet, ist seit einem Kopfschuss schwerhörig, wurde in ein Lazarett bei Berlin verlegt, entkam dadurch der sowjetischen Gefangenschaft.

 

Alexander Herlyn, Jahrgang 1947, unterrichtet am Wilhelmine-Siefkes-Gymnasium Latein und Deutsch, immer pünktlich, immer im Anzug, immer mehr fordernd, als die Jungen und Mädchen zu leisten vermögen; trägt in seinem Aktenkoffer stets eine Blechbox mit sich herum, die das Schicksal der Schüler bestimmt.

 

Arno Weers, Jahrgang 1943, unterrichtet am Wilhelmine-Siefkes-Gymnasium Mathe und Musik, schütteres, zur Seite gekämmtes Haar, hat das absolute Gehör und schon als Neunjähriger Sonaten und Suiten komponiert; anstatt weitere Stücke zu schreiben, beginnt er, in Jazzbands zu spielen, beendet auch diese Karriere, wird Lehrer und gibt einigen Jugendlichen, deren Eltern es sich leisten können, Privatunterricht.

 

Wilfried Ennen, Jahrgang 1935, Apotheker, Leiter und Dirigent des Männergesangvereins, komponiert eigene Stücke, vertont Gedichte und schreibt Stücke für den Chor um; versteht sein Ehrenamt umfassend und hält sich aus fast allem heraus; korrekt und zuverlässig, Schützenkönig des Schützenvereins Grün Weiß Jericho.

 

Martin Masurczak, Jahrgang 1945, Flüchtlingskind, ist mit Bernhard Kuper zur Volksschule gegangen, Chefredakteur der Friesenzeitung, raucht Zigarren, wohnt mit seiner Mutter zusammen, weshalb Hard ihn Mamasurczak nennt.

 

Karl-Heinz Duken, Jahrgang 1927, Flakhelfer, Schwarzmarkthändler, Journalist, Chef vom Dienst bei der Friesenzeitung, hat über die Jahre ein Netzwerk aufgebaut, das seine Macht sichert; seinen Schreibtisch flankieren zwei Karteischränke voller Adressen und Telefonnummern; in allen Institutionen sitzen Freunde und Verwandte von ihm.

 

Harald Sievers, Jahrgang 1941, weißbärtig, weißhaarig, tablettenabhängig, seit dreißig Jahren in der SPD, seit zehn in der Gewerkschaft, seit drei im Betriebsrat der Friesenzeitung. Daniels Praktikumsbeauftragter, leicht erregbar, leidet unter Schwächeanfällen.